Soziale Bewegung von unten — Es entsteht Teilhabe am anderen

«Shared Reading» ist eine literarische Bewegung, die im Kleinen in Großbritannien begann und inzwischen als soziale Bewegung von unten bezeichnet wird. Man braucht nur ein Buch, einen Raum und Zeit für regelmäßige Treffen. Es wird reihum laut gelesen und über den Inhalt gesprochen. So haben früher Gemeinschaften die Zeit miteinander verbracht. Heute sind Zusammenkünfte von solch archaischer Einfachheit ungewöhnlich und revolutionär. In Großbritannien allerdings nicht mehr; dort gibt es Tausende solcher Lesekreise – und nun hält die Kultur des Shared Reading auch in Deutschland Einzug. Was mich betrifft, so musste ich einige Hürden überwinden, bis ich bereit war, mein tief verinnerlichtes Prinzip des Selbstlesens und Selbstdenkens zu relativieren und zu verwandeln. (…)

Seither suche ich menschliche Zusammenhänge, in denen gepflegt wird, was ich «gemeinsam denken» nennen möchte, denn nicht nur die Leseerfahrung, auch die Denkerfahrung erweitert sich im Zusammensein mit anderen.

Ein Gespräch zwischen Menschen, die zusammen ein Märchen oder eine Geschichte gehört haben, trägt oft Erlebnisse, Gefühle, Einsichten in unsere Seele, wie dies die stille Lektüre nur selten zu geben vermag. Gemeinsames Lesen und daran anknüpfende Gespräche verbinden uns mit einem Wissen, das uns aus universellen Weiten berühren kann. So etwas lässt sich nicht digital imitieren, es verlangt den gemeinsamen Austausch vor Ort. Die Bewegung des geteilten Lesens, vor rund zwanzig Jahren in Liverpool entstanden, hat unser Festland erreicht und bringt Freude und Erkenntnisse für immer mehr Menschen. Die Spielregeln dieser Kunst der geselligen Bildung sind einfach. Im Augenblick, wo die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ihrem Leben zu erzählen anfangen, geschieht meist der Einbruch in etwas Neues, Beglückendes. Es entsteht Teilhabe am anderen – davon kann unsere dialogferne Welt nicht genug bekommen. Die Anteilnahme selbst scheint mir übrigens umso gründlicher zu gelingen, je vorbehaltloser die Versammelten einander zuhören und je unterschiedlicher die Menschen in der Leserunde sind.